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ADMIN

Ein paar Gedanken zur Präsentation eigener Fotos

Hallo Ulrike,

ich kann das, was Du schreibst, gut nachvollziehen. Es ist sehr häufig so, dass während der Erstellung eines Fotos Bedingungen herrschten, die eine bestimmte Vorgehensweise be- oder sogar verhinderten und so zu einem anderen Vorgehen führten. Hier stellt sich die Frage: Führten diese Bedingungen bzw. Voraussetzungen zu einem Kompromiss auf dem eigentlichen Weg zum Wunschbild, mit anderen Worten zu einer Verschlechterung des Fotos? Wenn ja, ist dies für den Fotografen (mit dieser männlichen Form des Wortes schließe ich in meinen folgenden Ausführung die weibliche immer mit ein) zweifellos ärgerlich. Schließlich wäre nach eigener Einschätzung das Bildergebnis unter anderen Umständen besser geworden als das schließlich erreichte.

Die Situation des Bildbetrachters

Für den Bildbetrachter stellt sich die ganze Sache völlig anders dar. Er sieht das tatsächlich umgesetzte Foto. Er weiß nichts von den Freuden und Nöten des Fotografen. Er sieht das präsentierte Foto und darf nun ausschließlich auf der Basis dieses zweidimensionalen Werks seine Wahrnehmung entwickeln. Stellt er nun fest, dass eine bestimmte Situation im Bild für ihn nicht ansprechend gelöst wurde, hat er in der Regel zwei Möglichkeiten der Interpretation: Wurde dieser Sachverhalt, an dem er als Bildbetrachter hängen bleibt, vom Bildautoren absichtlich, also mit vollem Bewusstsein, aus irgendeinem Grund so dargestellt? Oder ist sich der Fotograf über das, was ihn als Bildbetrachter beschäftigt, nicht bewusst?

Das ist ein Dilemma! Zwischen Fotograf und Bildbetrachter besteht ein Zwischenraum, ein Bereich der Unklarheit. Aber selbst hier kann man hinterfragen, ob das "schlimm" ist. Muss immer Klarheit bestehen? Muss eine solche Klarheit Ziel eines Bildautoren sein? Darf Unklarheit nicht sogar eine gezielte Provokation sein?

In diesen Fragestellungen schimmert die Offenheit des Wesens von Kunst durch. In der Kunst ist viel erlaubt. Viele Menschen vertreten, ja fordern die Auffassung, Kunst müsse frei sein, frei von allen Regeln, frei von allem Starren, frei von allem Einschätzbaren.

Die Sache mit der Augenhöhe

Aber wirklich Sinn machen all diese Fragen nur dann, wenn ein Künstler – hier in unserem Fall der Fotograf – sein Werk bis ins letzte Detail völlig bewusst so gestaltet, wie es sich dem Betrachter gegenüber zeigt. Nur dann können sich beide – Künstler und Bildbetrachter – auf Augenhöhe begegnen. Nur dann ist es möglich, Entscheidungen des Künstlers, mit denen sich der Betrachter schwer tut, (gemeinsam) zu besprechen und zu diskutieren. Hierbei muss natürlich nicht zwingend ein Konsens entstehen; Unterschiede in der Einschätzung und Wahrnehmung dürfen durchaus weiterhin bestehen bleiben. Aber wie gesagt: Der Austausch hierüber läuft offen und auf Augenhöhe.

Warum schreibe ich das alles?

Bei Deinem Foto gab es eine vergleichbare Situation. Ich habe als Bildbetrachter eine Gegebenheit angesprochen, an der ich ein wenig hängengeblieben bin: die Unschärfen in der Spitze des Astes. Ich habe mich mit der Wirkung dieser Unschärfen und damit nachlassenden Brillanz (Wassertropfen) auseinandergesetzt und bin zu dem Ergebnis gekommen, dass mir (!) hier die Kontrastkanten fehlen.

Nun schilderst Du mir die Umstände, die dazu geführt hatten, dass Du dies nicht verhindern konntest (gebogener Ast sowie eingeschränkte Möglichkeiten der Kameraausrichtung). Nun komme ich ein wenig ins Wanken. Vorher fragte ich mich, ob Du selbst nicht gesehen hast, dass hier die Schärfen am Ende dieses Astes vielleicht unvorteilhaft auslaufen (eigentlich an seiner wichtigsten Stelle, inklusive der Wassertropfen)? Oder vielleicht hast Du es gesehen, aber es spielte für Dich keine Rolle? Oder Du wolltest es vielleicht sogar genau so darstellen?

Jetzt erfahre ich, dass Du das anscheinend auch gerne anders gelöst hättest, dies aber aufgrund der von Dir beschriebenen Umstände nicht umsetzbar war. Erst jetzt, mit diesen Informationen von Dir, spüre ich eine Augenhöhe zwischen Dir als Fotografin und mir als Bildbetrachter hinsichtlich des Betrachtens Deines Fotos.

Die Sache mit den widrigen Umständen und Emotionen

Bitte verstehe mich nicht falsch. Ich möchte mit meinen Zeilen weniger eine Kritik äußern, als vielmehr erklären, was hier "passiert" ist. Wir Fotografen präsentieren sehr häufig Fotos, bei deren Erstellung nicht alles nach eigener Einschätzung bestmöglich funktioniert hat. Der Haken dabei: WIR wissen, warum bestimmte Aspekte im Bild gegebenenfalls perfekt gelungen sind, andere hingegen vielleicht weniger gut eingefangen wurden. Der Bildbetrachter weiß dies nicht. Er kennt weder unseren Kampf mit Widrigkeiten, noch unsere Stimmungen und Emotionen, die dabei erlebt wurden und damit untrennbar verbunden sind. Er sieht nur ein zweidimensionales Foto, das er nun als Gesamtes auf sich wirken lassen kann und/oder mit seinen Augen Bereich für Bereich forschend untersucht, vielleicht sogar analysiert. Und dabei ist es sehr wahrscheinlich, dass er genau an diesen Aspekten hängenbleibt, die sich für den Fotografen bereits bei der Erstellung des Fotos als Hürde erwiesen haben (vorausgesetzt, er hat ausreichende fachliche Kompetenz hierzu).

Konkret: Deine Bildeinstellung

Bei Deinem Bildbeispiel oben ist das die aus der Schärfe laufende Astspitze. Bis zu Deiner Erklärung habe ich mich "unterhalb" Deiner Augenhöhe mit dem Foto auseinandergesetzt – und so wird es den meisten Bildbetrachtern gehen. Erst mit Deinen Ausführungen wurde diese Augenhöhe hergestellt. Aber mit welchem Ergebnis? Du hast das "Problem", an dem ich hängengeblieben bin, bestätigt. Und vor allen Dingen: Du hattest dieses Problem bereits vorher auch gesehen, es aber aufgrund der vorherrschenden Umstände nicht umgehen können. Hm, was soll ich jetzt noch dazu sagen? Ehrlich gesagt, ich weiß nichts mehr... Denn anscheinend war Dir ja vorher schon alles klar!? Es hat halt nur nicht anders funktioniert...

Wir sind alle in guter Gesellschaft

Solche oder ähnliche Situationen finden sich bei sehr vielen Bildpräsentationen: in vielen Internet-Fotoforen, bei Foto-Wettbewerben oder bei Prints für die Wand, um nur einige zu nennen. Ich bin unzählige Male beispielsweise bei Juri-Tätigkeiten mit nachträglichen Autoren-Erklärungen konfrontiert worden, warum das eine oder andere nicht gut Dargestellte im Bild aufgrund irgendwelcher Gegebenheiten nicht besser zu fotografieren war. Ja, und immer habe ich das verstanden. Immer konnte ich die Probleme nachvollziehen. Aber ist damit die Sache in Ordnung?

Ich bitte Dich nochmals, meine Zeilen nicht falsch zu verstehen – auch, wenn ich hier sehr offen schreibe. Wie gesagt, so gehen die meisten Fotografen vor. Auch ich selbst habe mich unzählige Male in vergleichbarer Form als Fotograf aufgestellt.

Wie kann man mit einer solchen Situation anders umgehen?

Ein Weg ist, ein Foto, dass aufgrund widriger Umstände bei seiner Erstellung nur mit Kompromissen fotografiert werden konnte, einfach neu zu machen. Das bedeutet beispielsweise, dass ich intensiv weitersuche, bis ich eine andere Motivsituation gefunden habe, die kompromisslos passt. Oder ich komme zu einem späteren Zeitpunkt wieder. Oder ich warte, bis mir eine solche oder ähnliche Situation irgendwann und irgendwo anders in perfekter Form über den Weg läuft. Das ist der harte Weg zum guten Bild :-).

Ein anderer Weg ist, beim Vorzeigen des Fotos die Informationen mitzuliefern, die nach eigener Einschätzung zu Kompromissen bei der Entstehung dieses Fotos geführt haben. Damit wird zum Bildbetrachter die Augenhöhe hergestellt. Mit diesen Informationen kennt er die Fakten und kann die Situation einschätzen, die zu dem Foto in der Form geführt haben, in der es ihm zum Betrachten vorgelegt wird.
Dies ist natürlich nur sinnvoll, wenn ein Foto zur kritischen Beurteilung vorgezeigt wird, nicht beispielsweise bei jedem Foto im Rahmen einer Sofa-Präsentation der Fotos aus dem letzten Sommerurlaub :-).

Der Fotograf wird zum Bildbetrachter – ein Spagat

Wenn man sich viel mit Fotografie und der Präsentation von Fotos beschäftigt, ist es wichtig, sich in den Bildbetrachter weitestmöglich hineinzuversetzen. Hierbei ist es sehr hilfreich zu erkennen, dass ein Bildbetrachter in keiner Weise die Gefühle des Fotografen teilt, die der zum Zeitpunkt des Fotografierens hatte. War der Fotograf von Düften des Motivs euphorisiert? War er erschöpft? Taten ihm nach stundenlangem Warten auf die richtige Situation alle Knochen weh? War er bei 30 Grad Celsius dehydriert und konnte fast nichts mehr im Kamerasucher erkennen? Oder war er einfach froh und glücklich, nach stundenlanger Suche endlich die ersehnte Pflanze gefunden zu haben.
– Oder war er verärgert und genervt, weil die Kamera nicht in die eigentlich notwendige Ausrichtung zu bringen war, um eine Astspitze scharf zu bekommen – wenn diese dann auch noch gerade gewesen wäre.

Diese Liste ließe sich endlos fortsetzten; jeder Fotograf kennt solche Emotionen. Aber der Bildbetrachter steht vielleicht einfach nur vor einer Wand und schaut das Bild an, vielleicht mit einer Tasse guten Kaffees in der Hand. Oder sitzt am Schreibtisch und guckt in den Monitor. Oder, oder, oder...

Es ist alles andere als leicht, sich als Fotograf von all diesen mit dem eigenen Foto verknüpften Stimmungen und Gefühlen abzutrennen und sich in die Situation des Bildbetrachters zu begeben.

Selbst vielen Vollprofis ist das erst im späteren Verlauf ihrer Kariere gelungen :-). Aber dies ist einer der größten und erfolgreichsten Schritte in der Weiterentwicklung der eigenen Fotografie.

So, nun Feuer frei zu meinen Ausführungen. Ich hoffe nicht, Dich verärgert zu haben.

Liebe Grüße

Roland

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