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Gedanken zu Unschärfen

Hallo Wolfgang,

ich kann Deine Gedanken gut verstehen. Ja, natürlich, es gibt das Prinzip der "gekonnten Unschärfe". Obwohl die Trennung nicht einfach ist, erkennt man erstaunlicherweise gekonnte Unschärfe sofort; nicht gekonnt leider auch :-).

Hier bewegen wir uns, wie Du es auch schon formuliert hast, außerhalb der meßbaren Bereiche. Schärfe kann beispielsweise in Linien pro Millimetern ausgedrückt werden. Dann kommen noch Parameter wie Kontrast und Brillanz hinzu – alles recht gut greifbar, weil es sich zumindest zum Teil um statische Parameter handelt – wobei es bei der Brillanz schon etwas schwieriger wird :-).

Aber wie baut man Unschärfe so ins ins Bild, dass es eine hohe künstlerische Aussage hat? Ein wichtiger Aspekt hierbei ist neben dem Grad der Unschärfe die Verteilung der verschiedenen Unschärfen in einem Bild. Wie stehen relativ schärfere Bildbereiche zu den deutlich unschärferen?

Natürlich spielen auch Kontraste und vor allem Licht eine groß Rolle.

Aber auch dies sind schon fast eher "technische", statische Parameter. Die vielleicht größte Rolle spielt die Aussage-Intention des Künstlers hinter der Entscheidung, wie er in einem Bild mit Schärfen und Unschärfen umgeht.

In Gudruns Pfützenpoesie beispielsweise ist Licht die Hauptaussage. Gudrun zeigt das Meer von Reflexen auf den sonnenbeschienenen Pfützen. Die Fliegen sind "nur" vorübergehender Bestandteil dieses Lebensraum. Die Hauptaussage liegt jedoch in der Wahrnehmung, im Erleben des Lebensraums Pfütze. Auf der einen Seite gibt es die Pfütze, auf der anderen den Bildbetrachter. Ja, und dann sind da auch noch die Langbeinfliegen – temporäre, flüchtige Besucher der Pfütze. Sie befinden sich aber mehr neben dem Bildbetrachter, sind also eher Teil des Beobachtenden und "Nutzenden" der Pfützen. Nichtsdestotrotz stehen die Pfützen im Vordergrund der Story. 

Und Gudruns Mittel der Wahl hierfür sind Vintage-Objektive, die die Schärfe und damit den Detailreichtum der Fliegen unterdrücken, während sie die Reflexe des sonnendurchfluteten Lebensraum hervorheben – durch aus heutiger Sicht mangelnde Korrektur der Gläser! Die alten Gläser der eingesetzten Objektive unterstützen also Gudruns angestrebte Kernaussage der Fotos. Sie sorgen für die entscheidende Verschiebung des Darstellungsschwerpunkts: von den Details der kleinen Fliegen hin zur Wahrnehmung des Lebensraums. Dies ist so deutlich umgesetzt, dass man beim Betrachten der Bilder das Gefühl hat, selbst in diesem sonnendurchfluteten Lebensraum zu sein.

Dadurch haben diese Fotos von Gudrun eine so hohe emotionale Aussagedichte. Der Betrachter betrachtet nicht nur das Geschehen (die Langbeinfliegen) auf den Pfützen, er fühlt sich vielmehr als Teil des Lebensraum Pfütze. Das macht große Reportagen aus!

[Anmerkung für Leser dieses Threads: Wolfgang spricht hier die Reportage "Pfützenpoesie" von Gudrun Besler an, die in unserer MAKROFOTO-Spezialausgabe zur Vintage-Makrofotografie auf Seite 62 – 75 abgedruckt ist.]

Eines wird hierbei sehr deutlich: Auch in Unschärfen liegen viele Informationen. Es sind aber meist andere als in den Schärfen. Während die Schärfen beispielsweise moderner Objektive dem Bildbetrachter die kleinsten Details eines Motivs offenbaren, lassen Unschärfen mehr Spielraum für Interpretationen und Wahrnehmungen. Schärfen geben vor, was zu sehen ist. Unschärfen hingegen schaffen Freiräume, deren Ungenauigkeit (weniger detaillierte Vorgaben) ein Angebot für den Bildbetrachter ist, sie mit Interpretationen, Wahrnehmungen oder Gefühlen zu füllen.

Es wird ersichtlich, dass Unschärfen eine sehr große Rolle spielen bei der bildgebenden Darstellung – wozu Fotos gehören. Unter anderem deshalb besetzt die Vintage-Fotografie eine Nische in der Fotografie. Natürlich kann auch die moderne Fotografie phantastische Unschärfen erzeugen. Doch die Spielräume, besser gesagt Spielarten der Vintage-Makrofotografie hinsichtlich der Darstellung von Unschärfen sind ungleich größer und vor allem vielfältiger.

Liebe Grüße 

Roland

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